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Fotografie als Dokumentation – Dokumentation als Kunst


Im ersten Teil meines Beitrags zur 57. Biennale in Venedig 2017 befasste ich mich mit den Fotografien die im Hauptpavillon zu sehen waren. Im zweiten Teil schreibe ich über Fotografie in den Länderpavillons. Diesem fotografischen Rundgang gebe ich die Überschrift „Fotografie als Dokumentation – Dokumentation als Kunst“. Damit werden einerseits unterschiedliche Absichten und Verwendungsarten von Fotografie charakterisiert, andererseits soll damit ausgedrückt werden, dass es sich bei den gezeigten dokumentierenden Fotografien um selbständige künstlerische Werke handelt.

Janos Vetö fotografiert Tibor Hajas

János Vetö, geb. 1953, war einer der ungarischen Avantgardekünstler in den 1970/80er Jahren, die sich damals mit Fotografie, Malerei, Film, Video und Musik den Eingrenzungen der künstlerischen Freiheiten widersetzten. Janos Vetö lebt heute in Kopenhagen.

Tibor Hajas, (1946 – 1980)war ein grenzgehender Performer und Aktionskünstler dessen Hauptwerk in den 1970er Jahren unter dem Sowjetregime entstand. Er verwendete seinen Körper als Mittel und bewegte sich auf der Suche nach der totalen Freiheit an der fragilen Grenze zwischen Leben und Tod.

Janos Vetö (Foto:netfilmmakers.dk)

Ungarische Fotografen haben die Geschichte der Fotografie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert entscheidend mitgeprägt. Selten nur – sie sind zumeist nach Westeuropa oder Amerika ausgewandert – erinnert man ihre eigentliche Herkunft: André(Andor)Kertész, 1985 in New York verstorben, László Moholy-Nagy, 1946 verstorben in Chicago, Gyula Halász, berühmt geworden als „Brassaï“, 1984 in Nizza verstorben, Gregory (Gyorgy) Kepes, verstorben 2001 in Los Angeles, Martin Munkácsi (Márton Marmelstein),1963in New York verstorben.

Aus diesen im damaligen offiziellen Ungarn verheimlichten Traditionen hat die künstlerische Avantgarde einen radikal-realistischen Subjektivismus entwickelt, der nichts mit dem staatlich verordnetem „Sozialistischen Realismus“ zu tun hatte. Im Gegenteil, es geht um das Verhältnis von „Realität“ und „künstlerischer Realität“, um die Funktion der Kunst, um die Frage, ob Kunst in die Lebenswirklichkeiten hinein intervenieren kann. Unter den damals herrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen entwickelten die Künstler eine extrem private visuelle Sprache, die von den Zensoren nicht verstanden wurde. Häufig wurden dafür Performences gewählt, die nur von einem kleinen Kreis entschlüsselt werden konnten.

Die gemeinsamen Arbeiten von Tibor Hajas als wagemutiger Performer und dem Fotografen János Vetö waren in den 1970er Jahren eine verstörende Reaktion auf die restriktive offizielle Kulturpolitik. Tibor Hajas selbst sagte zur Bedeutung der Fotografie für seine Kunst: „... ohne Fotografie wäre es wie ohne Wasser ... die Kommunikation mit der Welt würde aufhören. Eine Geschichte ohne sie beweisen zu können wäre nicht nur eine private Angelegenheit, sondern eine geheime Geschichte, eine Halluzination, mit der man alleine zurechtkommen müsste.“ Die Fotografie ersetzt die Erzählung.

Quellen:

John P. Jacob: The Enigma Of Meaning: Transforming Reality In Hungarian Photography. http://www.c3.hu/~ligal/92+1.htm (5.1.2018)

Deutsche Übersetzung des Zitats aus dem Englischen W.E.B.

Wikipedia zu: Tibor Hajas, A.Kertez, L. Moholy-Nagy, G. Halász, G. Kepes, M. Munkácsi

 

Sharon Lockhart: „Art can be a forum for ideas where special things can happen.“

Im polnischen Pavillon würdigt die US-amerikanische Künstlerin das soziale Engagement des Kinderarztes und Pädagogen Janusz Korczak (eigentl. Henryk Goldszmit) für die armen und verwahrlosten Kinder Polens, der 1942 darauf bestand, zusammen mit den etwa 200 Kindern des Waisenhauses im Warschauer Ghetto in das Vernichtungslager Treblinka abtransportiert zu werden. Wenige Tage danach wurden sie in den Gaskammern ermordet.

Dem in Venedig ausgezeichnetem Projekt “Little Review” liegt die Idee Janusz Korczaks zugrunde, der jungen Generation eine Stimme zu geben. Der Titel des Projekts leitet sich aus der Beilage „The Little Review“ (“Mały Przegląd”) her, einer Freitags-Beilage der größten von 1923 – 1939 erschienenem polnischsprachigen jüdischen Tageszeitung “Nasz Przegląd” (übs. „Unser Bericht“). Polnische Kinder aus allen Landesteilen schrieben für „The Little Review“ und hatten so Gelegenheit, ihr einzigartiges Verständnis und ihre Beobachtungen der Welt zu demonstrieren.

Sharon Lockhart würdigt mit ihrer Installation zugleich das Wirken Janusz Korczaks und gibt in einem Video jungen Frauen aus einer sozialtherapeutischen Betreuungeinrichtung am Beginn ihres Erwachsenwerdens eine Stimme. Zudem liegt eine englischsprachige Übersetzung von „The Little Review“ vom 22. November 1935 auf.

Die großformatigen Fotografien zeigen zwei junge Frauen in der polnischen Nationalbibliothek, Exemplare der dort archivierten Tageszeitung “Mały Przegląd” lesend. Lockhart nennt die jungen, für „die Kamera und das Publikum performenden Frauen“ Mitarbeiterinnen. Mit Hilfe der Nationalen Kunstgalerie Zacheta (Warschau) setzt sie ihre Arbeit mit den Jugendlichen fort.

Die besondere Bedeutung dieser Arbeit von Sharon Lockhart geht aus der Begründung der Jury für die Auswahl des Beitrags hervor: „Sharon Lockhart refers to the history of the life and work of Janusz Korczak but she does not concentrate on the aspects of his dramatic biography. The main aim of her project/exhibition is to recall the extraordinary quality of Korczak’s pedagogical approach and his teaching method and present it to the worldwide audience.“

Quellen:

Wikipedia, 8.1.2018

http://theartnewspaper.com/news/sharon-lockhart-gives-voice-to-polish-girls-and-jewish-orphans-at-the-venice-biennale (8.2.2018)

http://www.arterritory.com/en/news/6603-the_57th_venice_art_biennale_sharon_lockhart_at_the_polish_national_pavilion (8.1.2018)

Engl. Zitat aus: http://moussemagazine.it/sharon-lockhart-little-review-polish-pavilion-venice-biennale-2017/

 

Anne Imhof: Das grosse deutsche Kunsträtsel*)

"Wir ballen die Faust für die Zukunft, für die Freiheit, gegen Genderkonformität!" – mit diesem Ausruf reagierte Anne Imhof (geb. 1978) auf die Verleihung des Goldenen Löwen für den besten Pavillon der Biennale 2017. Ein mächtiges Statement, eine mächtige Ausstellung: „FAUST“ – nicht weniger, anstatt Goethes Pudel Dobermänner – eine beziehungsreiche Anspielung: diese Hunderasse wurde nicht nur in Deutschland gezüchtet, sondern auch in Konzentrationslagern als Diensthunde verwendet. Hanno Rauterberg titelt in der Zeit: „Über dieses Werk wird man noch lange sprechen.“

Foto: Arianna Panarella

Anne Imhof hat den geschichtsmächtigen deutschen Pavillon freigelegt. Er zeigt so sein versteinertes Gesicht deutscher Geschichte des 20. Jahrhunderts: 1909 als Bayerischer Pavillon von der Stadt Venedig gemietet wird er 1914 an zwei deutsche Kunstvereine verkauft und später vom Deutsche Kaiserreich übernommen. 1938 gefiel die antikisierte Architektur des Gebäudes dem faschistischen Deutschland nicht mehr und es wurde monumentalomanisch zum höheren Ruhm des Reiches „Germania“ umgebaut. Nach 1945 wurden Hakenkreuz und Hoheitsadler entfernt, 1964 wurde im Inneren umgebaut. Dreimal, 1993, 2007 und 2013, wurde hier schon Deutschland selbst im Rahmen der Biennale thematisiert. Zum vierten Mal nunmehr durch Anne Imhof, deren Werk in Tiefmenschliches, in Ganzweltliches, in Körperliches reicht. Sie entkleidet den Raum, zieht einen aufgestelzten Glasboden durch das Gebäude, montiert Podeste an die Wände und stellt Menschen wie versteinert auf. Zu Klängen und Geräuschen, zur Musik von Jules Massenet lösen sie sich aus ihren Erstarrungen – eine mehrstündige Erzählung über Macht und Ohnmacht, Willkür und Gewalt, Widerstand und Freiheit, über Distanz und Nähe, über Vertrautes und Fremdes - eine neue faustische Erzählung beginnt.

Zu Anne Imhofs künstlerischem Vokabular gehören auch in den Räumen verteilte Fotografien von Nadine Fraczkowski, Motive früherer Performances. Mir erschienen sie wie Dokumente menschlicher Zerbrechlichkeit.

 

Nadine Fraczkowski fotografierte kongenial den „FAUST“ im deutschen Pavillon: Dokumentation als Kunst! Ihre Fotografien übersetzen die Atmosphäre, die Spannung, die Körperlichkeit, die Aggression und Zärtlichkeit, das Erschrecken, schlichtweg den FAUST in zweidimensionale Bilder.

Foto: Nadine Fraczkowski

Dazu zwei Hinweise:

http://nadinefraczkowski.blogspot.co.at/2017/05/

im Archiv „May“ befinden sich zwei Ordner: ‚Venezia’ und ‚Faust’ – Körperlichkeit, Direktheit, Bewegung im Bild!

https://retrospektiven.wordpress.com/2017/09/19/anne-imhof-faust-jr-im-deutschen-pavillon-der-57-biennale-di-venezia/

Lesenswerter blog von Kai Eric Schwichtenberg, dem ich auch die obige Charakterisierung der Fotos von N.F. entnommen habe.

___________

Quellen:

*) Hanno Rauterberg in: http://www.zeit.de/2017/27/anne-imhof-biennale-venedig-faust-performance

Zitat von A.Imhof nach: derstandard.at/2000057549112/Biennale-Von-Faeusten-und-Freudentraenen (14.5.2017)

https://de.wikipedia.org/wiki/Dobermann

https://retrospektiven.wordpress.com/2017/09/19/anne-imhof-faust-jr-im-deutschen-pavillon-der-57-biennale-di-venezia/#anchor http://www.wz.de/home/kultur/kunst/deutscher-pavillon-bei-venedig-biennale-oeffnet-1.2433162

Protokoll der Performance von Hanno Rauterberg: http://www.zeit.de/2017/27/anne-imhof-biennale-venedig-faust-performance

Eigene Screenshots von Olga Perepelitsa: https://www.youtube.com/watch?v=j3Tl8BwuhYw&t=509sOlga

Foto Ariana Pariella: http://ilgiornaledellarchitettura.com/web/2017/05/17/venezia-esercizi-di-sintassi-alla-57-biennale-darte/ (9.1.2017)

 

Nicolás Garcia Uriburu – Der Canale Grande in Grün

Der argentinische Künstler (1937 – 2016) wurde in Europa schlagartig bekannt, nachdem er als Protest gegen die globale Gewässerverschmutzung bei der Biennale am 19. Juni 1968, 08.00 Uhr morgens den Canale Grande mit einem nicht giftigen fluoreszierenden Mittel grün gefärbt hat. Es war dies die erste Aktion seines Programms, in allen vier Himmelsrichtungen des Planeten Erde ein Zeichen zu setzen. (Weitere folgten in New York, Paris, Buenos Aires.)

Uriburu hat das vom deutschen Philosophen Artur Schopenhauer postulierte Recht, dass jeder Mensch der eine Idee verbreiten möchte, diese in Kunst ausdrücken und verbreiten dürfe in einer künstlerischen Praxis realsisiert.

Uriburu hat eine Fotografie dieser Aktion pastellfarben übermalt und stellte diese konsequenterweise kostenlos und unlimitiert weltweit zur Verfügung:

 

Eileen Quinlan: Befreiungsdokumente

Die Fotokünstlerin Eileen Quinlan (Jg. 1972) versteht sich als ‚still-life’-Fotografin in der Nachfolge der amerikanischen Spätmoderne (The Picture Generation, 1974 – 1984*)).

In der Biennale 2017 zeigt Eileen Quinlan sieben freistehende Fotografien, d.h. Bilder die keinen weiteren Zusammenhang erkennen lassen. Zu sehen sind nackte Körperteile der Künstlerin nach der Schwangerschaft und einer anderen jungen Frau. Die Verfremdungen der Bilder entstehen hier teilweise dadurch, dass die schwangere Künstlerin ihren an eine gläserne Duschwand angepressten Körper fotografiert und einen Teil des Duschwassers für die Entwicklung der Fotografie verwendet.

[ Bildtitel von links nach rechts: ‚Studio Time’-‚Super Moon’- ‚Attachment’-‚Broken Figure’-‚Enduring Frustration’-‚Let Down’-‚Origins’]

Annika Klein (Aperture Foundation)schreibt dazu: 'Die Fotokamera scheint der Fotografin Fesseln aufzuerlegen aus denen sie sich verzweifelt zu befreien versucht.'**)

Sie bevorzugt s/w-Fotografie die sie als Silbergelatin-Druck ausarbeitet. Offensichtlich „stört“ sie den Ausarbeitungsprozess durch Kratzen, Schaben, partielles Überbelichten und alchemische Manipulationen. So entstehen faszinierende Kompositionen, befreit von den „hypertrophen technologischen Möglichkeiten“**) unserer Zeit. Spezielle Effekte erreicht sie beispielweise auch mit Vintage-Polaroid-Filmen.

Quellen:

*) Dazu werden bspw.Cindy Sherman, Richard Prince (der „Marlboro-Fotograf“), Sherrie Levine (Appropriation Art)gezählt.

Wikipedia, Stw. „The Picture Generation“, 13.1.2018

**) https://aperture.org/blog/venice-biennale-problem-photography/

Dt.Übertragung des engl. Zitats WEB


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